Copy(left): Rolf Basten
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Zeitgestaltung als Stilelement
Im Humanismus, wo der Mensch an sich zum Mittelpunkt aller Dinge geworden war, wandelte sich die Musik von einer lyrisch-deskriptiven zu einer dramatisch-expressiven Kunst. In der Monodie, aus der sich später das Rezitativ und die Arie entwickelten, sollte die Musik zwar wieder Dienerin des Wortes sein, aber daneben war eine ganz neue Art von Musik entstanden: die Absolute Musik. Das ist reine Instrumentalmusik, die nicht auf Text oder Tanz sondern nur auf sich selbst bezogen war. Ihre Aufgabe bestand in der Darstellung individueller Affekte. Musikalische Zeitgestaltung erfuhr hier einen enormen Bedeutungswandel und Bedeutungszuwachs. Vom Wortrhythmus befreit war sie nicht mehr nur Gestaltungsfaktor, sie war jetzt selbstständiges Ausdrucksmittel. In Monteverdis „Combattimento di Tancredi e Clorinda“ von 1638 verschmolz diese Veränderung mit dem neuen monodischen Gesangsstil und ermöglichte erstmals die Darstellung von Zorn.
Tempo als formendes Element
Hier tritt noch ein Weiteres zutage: die Geschwindigkeit, das Tempo dieses Ausschnittes. Aufregung und Wut lassen den Puls ansteigen.
Erst in einer Epoche, wo Zeitgestaltung zum eigenständigen Stilmittel geworden war, konnte Musik solch ein Phänomen darstellen. Die Notenwerte, welche ein Komponist wählte, implizierten von nun an auch die Geschwindigkeit. Zudem hielten Tempovorschriften Einzug in die Spielanweisungen. Das Tempo selbst war nun Stilelement. Am Beginn des 17. Jahrhunderts wechselten die Tempoangaben innerhalb eines Stückes mannigfaltig, ganz so, wie es der jeweilig ausgedrückte Affekt erforderte. Doch im Verlauf des Jahrhunderts separierten sich diese verschiedenen Tempoabschnitte voneinander und wurden zu selbstständigen Sätzen, zyklische Formen konnten somit entstehen, Suite, Sonate, Symphonie. War Tempo zunächst schon ein eigenständiger Ausdrucksträger geworden, so geriet er in einer Gesellschaft die 9 zunehmend durch chronometrische Reglementierung gekennzeichnet war, sogar zum Formträger. Die schnellen Sätze mit wirbelnden Sechzehntelnoten und treibenden so genannten Impulsbässen das sind schnelle repetierende Achtelnoten in den Bässen, sowie Motorik als neuem musikalischem Phänomen stellten die Repräsentation des Absolutistischen Herrschergestus dar, wie uns die Einleitungssinfonia zu Alessandro Scarlattis Oper „Griselda“(1710) deutlich macht.
Zeitgestaltung – Chronos
Nachdem sich die Instrumentalmusik weitgehend aus dem „Griff“ des Gesprochenen gelöst hatte, war musikalische Zeitgestaltung kein sich Ereignendes mehr. Nun war sie zum wesentlichen Element der persönlichen, künstlerischen Willensvorgabe durch den Komponisten geworden. Die Notenschrift stellte dadurch eine immer genauer werdende Vorgabe dar, sie entsprach bereits in großen Teilen dem heutigen Stand. Man dachte im 18. Jahrhundert nicht mehr in Versfüssen sondern in Motiven. Vor allem Taktstriche wurden bedeutsam und der moderne Akzentstufentakt entwickelte sich. Darin wird eine bestimmte Anzahl von gleichmäßigen Pulsschlägen – Metrum
– hierarchisch zu sinnvollen Einheiten zusammengefasst. Das Metrum entspricht quasi dem Chronos, der Bewegung eines Uhrzeigers.
Vergleichen wir die vorhin gehörte Estampie aus dem 12. Jahrhundert mit einem Andante aus Mozarts Posthornserenade, um dies besser nachfühlen zu können. Bei allem Charme und bei aller Ruhe des Mozart-Andantes kann man die Kontrolle, den Gestaltungswillen und die chronometrische Regelmäßigkeit nicht überhören. Kein Wunder, die Gesellschaft war komplex geworden, Zeitgenauigkeit war notwendig, Chronometer beherrschten den Tagesablauf.
Chronos und Kairos
Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte ein großer Schub der Europäischen Kultur ins Subjektive und Individualistische, denken Sie an die „Kopernikanische Wende“, die an Kants Feststellung, das Objektive existiere erst durch die Wahrnehmung des Subjekts, festgemacht wird. Und auch Rousseaus Parteiname für das Individuum und dessen Empfindungen verdeutlichen dies. Der Schub beförderte Europa in ein neues Zeitalter. Die bürgerliche, freiheitliche Gesellschaftsordnung begann sich im 19. Jahrhundert durchzusetzen und die Epoche der Romantik konnte ab ca. 1830 beginnen.
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Die Veränderungen bescherten der Musik nicht nur Neuerungen sondern auch Probleme. Zeitgestaltung war auf der einen Seite Teil künstlerischer Willensvollstreckung durch den Komponisten. Auf der anderen Seite konnte nun der Ausführende sehr eigenwillig mit einem Werk umgehen, denn die Aufführungspraxis hatte sich vom Vortrag
zur Interpretation mit hermeneutischem Ansatz gewandelt. Melzer schuf hier eine Möglichkeit zur Abhilfe: Er erfand das Metronom, mit dessen Hilfe der Komponist das erwünschte tempo mathematisch genau vorschreiben konnte. Beethoven begann seit 1817 Metronomangaben seinen Werken voranzustellen. Vorläufer für das Metronom
hatte es bereits seit dem 17. Jahrhundert gegeben, jetzt aber erst bestand Bedarf an solch einem Hilfsmittel. dass Melzels Erfindung nicht bloß zum stupiden Üben noch stupiderer Etüden geschaffen wurde, sehen wir an den Metronomangaben der Beethovenschen Symphonien, wo sie strikte Vorgaben für den Dirigenten sein sollten.
Von Beethoven selbst berichteten seine Zeitgenossen, er habe sich durchaus nicht sklavisch an seine eigenen Angaben gehalten. Wie soll man das auch können, bedenkt man Phänomene wie beispielsweise Lampenfieber, das durch die Ausschüttung von Adrenalin reale Zeitempfindung beeinflusst. Wenn ich mir Mitschnitte meiner eigenen Konzerte anhöre, bin ich oft genug erstaunt, wie rapide die Tempi sind, obwohl sie mir im Augenblick der Aufführung durchaus maßvoll erschienen waren. Dann kann es aber auch passieren, dass mir die selben Tempi später wieder ruhig vorkommen.
Subjektive Zeitwahrnehmung in einer subjektiven Kultur, woran kann man sich da orientieren, um herauszufinden, was richtig ist? Bei der Uraufführung von Max Bruchs Violinkonzert hielten sich Dirigent und Solist nicht an die Tempovorgabe des Komponisten, er spielte um einiges rascher. Bruch kommentierte dies hinterher, dass er das schnellere Tempo als viel besser empfand.
Chronos – Kairo
Unabhängig davon, woran wir uns orientieren können oder sollen: das Lebendige des Musizierens resultiert gerade aus dem Widerspruch zwischen mathematischer Genauigkeit und individueller Abweichung, man kann sagen: zwischen Chronos und Kairos, der gleichmäßigen, exakten Zeiteinteilung und dem durch künstlerische Geschicklichkeit 11 kreierten Glücksmoment. Verdichtung von Gefühlen kann künstlerisch in die Verdichtung musikalischer Zeitgestaltung umgesetzt werden.
Dazu kann es dem Komponisten oder den Interpreten geeignet erscheinen, ein Metrum außer Acht zu lassen und im Sinne eines rhetorischen Gestus das Tempo zu beschleunigen oder zu reduzieren.
Tempo rubato lautet der Fachausdruck hierfür, es wurde signifikantes Stilelement der romantischen Epoche. Mit den Worten ritardando, accelerando, stringendo etc. im Notentext fordert der Komponist die Verlangsamung oder Beschleunigung vom Interpreten ein.
Zeit als Material
In der Moderne des 20.Jahrhunderts widerfährt der Handhabung musikalischer Zeitgestaltung ein bemerkenswerter, gleichwohl zu erwarten gewesener Wandel, namentlich in der Avantgarde: das Metrum hat seine Bedeutung verloren, Rhythmus erfüllt nicht mehr die Funktion motivischer Gestaltung oder der Vermittelung seelischer, räumlicher und zeitlicher Bewegung. Zeitgestaltung wird hier in den Dienst der Organisation des immer neu erfundenen Klangmaterials gestellt, das oftmals wie eine große, bewegungslose Fläche vor uns zu stehen scheint. Solch ein Phänomen spiegelt das Paradoxon unserer modernen Gesellschaft wieder, worin Zeit als Dienerin des Materials bzw. Materiellen behandelt wird.
Das Spannungsverhältnis zwischen Chronos und Kairos bleibt aber lebendigkeitsspendend, solange musiziert wird. Musik konstituiert sich durch Tonhöhe, Tonstärke und Tondauer. Wodurch manifestieren sich letzten Endes die Unterschiede zwischen verschiedenen Interpretationen eines Werkes? Die Tonhöhe darf nicht verändert werden, weil unser Gehör die Abweichung als „falsch“ empfinden würde. Jedoch die Tonstärke bietet eine gewisse Möglichkeit, sie signifikantesten verleiht die Chronos-Kairos-Spannung, die Akzentuierung und Platzierung der Tondauer einer Interpretation ihre persönliche Note.
Durch die Tonträger, welche Interpretationsgeschichte überliefern und hörbar machen, was es schon an Interpretationen gegeben hat, geraten ausführende Musiker unter erheblichen Druck, sie müssen sich unter immer schwereren Bedingungen voneinander abgrenzen. Dabei kommt auch die Überlegung ins Spiel, mit welchen Mitteln ein neuer Reiz des Gehörten vermittelt werden kann. Dies geht sehr häufig über kleine Akzentverschiebungen, metrische Eigenwilligkeiten und die Tempowahl.12
Zu Beginn dieses Vortrages sagte ich, Individuen seien wie Tropfen in einem mächtigen Strom. Dieser Strom fließt immer schneller, Veränderungen vollziehen sich rascher und rapider. Es ist vollkommen logisch, dass die epocheneigene Geschwindigkeit auch die Interpreten mitreißt, dies kann man in der beständigen Zunahme der Tempi sehen, welche die Interpreten wählen, man kann durchaus von einem Interpretationsaccelerando sprechen.
Göttlicher 'Gestaltungsauftrag
Wir gehören der Zeit, der Augenblick gehört uns
Am Beispiel der Musik wird klar, wie abhängig alles von der Zeit und ihrer Gestaltung ist. Die Zeit gehört nicht uns, wir gehören der Zeit.
Der Fluss gehört nicht dem Tropfen, der Tropfen gehört dem Fluss.
Das Wesen von Zeit lässt sich über die Musik nur spekulativ ergründen, gleichwohl erfahren wir durch die Musik einiges über die subjektive Wirkung von Zeit. Wir begreifen durch Musik die Notwendigkeit, Zeit sinnvoll zu gestalten. Sinnvolle Zeitgestaltung, das ist ein süperbes Motto, nicht nur für einen Musiker sondern für jeden Menschen und die Gesellschaft. Das Leben ist für jeden ein göttlicher Gestaltungsauftrag.
Aus der Vergangenheit Gelerntes soll in der Gegenwart umgesetzt werden, um einer positiven, günstigen Zukunft möglichst wenig Hindernisse in den Weg zu stellen. Musik ist wie keine andere Kunst an den Augenblick gebunden, man lernt als Diener der Musik in gewissem Maße die Fähigkeit zur Hingabe an den Augenblick – auch im alltäglichen Leben. Wir sind eine begrenzte Spanne auf dieser Welt und dürfen mit ein wenig Bewusstsein und Erkenntnisfähigkeit die Herrlichkeit göttlicher Schöpfung schauen und preisen. Welch ein Geschenk. Welch eine Verschwendung dagegen, hadernd in der Vergangenheit zu verharren oder nach verlockenden Früchten der ungewissen Zukunft zu gieren. Andreas Gryphius hat das im 17. Jahrhundert viel eindrucksvoller und schöner mit folgenden Worten gesagt:
Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen;mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen.
Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in Acht,
so ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht!
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